Filmfestival Locarno 2016 | Retrospektive | Deutsches Kino
- Publiziert am 14. Juli 2016
Das 69. Festival del film Locarno widmet seine Retrospektive dem Kino der Bundesrepublik Deutschland der Nachkriegszeit. «Geliebt und verdrängt: Das Kino der jungen Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis 1963» ermöglicht die Wiederentdeckung einer in Vergessenheit geratenen filmischen Epoche.
Mario Adorf, Edgar Reitz, Dominik Graf
Unter den Gästen der Retrospektive finden sich der deutsche Schauspieler Mario Adorf, der mit einem Pardo alla carriera ausgezeichnet wird; der Regisseur Edgar Reitz, der auch als Präsident der Jury Pardi di domani amtiert; und der Regisseur Dominik Graf, der seinen letzten Dokumentarfilm über das deutsche Kino dieser Zeit präsentiert. Eine Epoche, die sowohl in Bezug auf ihre kulturellen und produktionstechnischen Aspekte als auch vom Wert der einzelnen Werke her von Interesse ist.
Rund 75 Filmperlen
Gezeigt werden rund 75 Filme, darunter berühmte Titel wie «Der Arzt von Stalingrad» (1958) von Géza von Radványi, «Es geschah am helllichten Tag» (1958) von Ladislao Vajda oder «Hunde, wollt ihr ewig leben» (1959) von Frank Wisbar nach dem gleichnamigen Roman von Fritz Wöss (Video). Das in Deutschland wohl bekannteste Werk Wisbars beschreibt den Kessel von Stalingrad. Die Brutalität militärischer Logik gegenüber den Individuen und das Aufbäumen der Menschlichkeit gegen Entscheidungen, die den Menschen als blosses Verschleissmaterial betrachten, stehen im Vordergrund dieses Films.
Geliebt und verdrängt – Tournee
Am Projekt sind renommierte Institutionen aus der Schweiz und dem Ausland beteiligt, die das deutsche Kino der Nachkriegszeit bis ins Jahr 2017 auf die Leinwand zurückholen wollen. In der Schweiz soll die Retrospektive nach dem Festival del film Locarno in weitere Städte reisen: Spielorte sind etwa die Cinémathèque suisse in Lausanne, das Filmpodium in Zürich und das Kino Rex in Bern. In Deutschland sind es das Deutsche Filmmuseum in Frankfurt, das Zeughauskino in Berlin, das Filmmuseum Düsseldorf, das Metropolis Kino in Hamburg und die Caligari FilmBühne in Wiesbaden. In Portugal übernimmt die Cinemateca Portuguesa das Programm, in Italien schliessen sich das Museo Nazionale del Cinema in Turin und das Festival I Mille Occhi in Triest an. «Geliebt und verdrängt» beendet seine Tournee 2017 in den USA, wo die Filmreihe von der Film Society of Lincoln Center in New York und der National Gallery of Art in Washington vorgeführt wird.
Katalog zur Filmreihe
in seinem Katalogbeitrag schreibt Rainer Knepperges über das Kino der jungen Bundesrepublik: «Überraschend unverschämt, erotisch, frech, frivol, vulgär, bizarr sind die Filme der 1950er und frühen 1960er.» In 33 Beiträgen lotet das Buch die Vielfalt des bundesrepublikanischen Nachkriegskinos aus. Die Autorinnen und Autoren entwerfen das umfassende, überraschende, neugierig machende Panorama einer Ära und eines Kinos, von dem es weite Teile noch zu entdecken gilt. Dominik Graf schliesst seinen Essay mit den Worten: «Die Bruchstellen im deutschen Film sind auch seine Kontinuität. Die vermeintliche Provinzialität war in Wahrheit seine unendliche Stärke. Seine ‘Falschheiten’ waren eine sehr originelle Spielart der Wahrhaftigkeit – und dies ist der ehrliche Grund, warum man den seltsamen westdeutschen Nachkriegsfilm wirklich lieben kann.»