Filmfestival Locarno 2016 | Late Shift | Eine Weltneuheit
Der von Schweizern realisierteThriller «Late Shift» ist ein absolutes Novum: der erste interaktive Kinofilm der Welt. Der Kinobesucher kann per Smartphone den Verlauf der Geschichte bestimmen. «Late Shift» ist nicht nur technisch brillant und verblüffend, sondern auch künstlerisch gut gemacht.
Töten oder nicht?
Soll Matt, der Hauptdarsteller in «Late Shift», zuschlagen oder nicht? Soll er den Feind töten oder Gnade walten lassen? In der schweizerisch/englischen Koproduktion ist es der Zuschauer selbst, der dies mit Hilfe einer App auf seinem Handy bestimmt. Nachdem Regisseur Samir mit «Iraqi Odyssee» bereits den weltweit ersten Dokumentarfilm in 3D realisiert hatte, schreiben wieder Schweizer Filmgeschichte. Der Film von Tobias Webers und Baptiste Plansche bietet mathematisch gesehen abertausend Varianten zur Auswahl, sieben verschiedene Filmenden sind möglich, je nach Wahl bekommt man zwischen 60 und 80 spannende Filmminuten aus insgesamt 400 zu sehen.
Swiss Democracy
Der Film kann auf dem eigenen Handy betrachtet werden. Am schönsten ist es aber, «Late Shift» im Kino zusammen mit anderen zu erleben. Da wird der Film quasi zu einem kleinen Demokratieexperiment. Es ist höchst spannend und lustvoll zu sehen, wie sich die eigenen Entscheidungen mit jenen der anderen Kinobesucher decken. Für Weber und Plansche ist das aber nicht nur ein Spiel, es geht ihnen um mehr. Sie möchten, dass sich die Zuschauerinnen und Zuschauer Gedanken über die Konsequenz ihrer Handlungen machen. So gesehen ist das Format auch wissenschaftlich höchst aufschlussreich. Will das Publikum mehr oder weniger Gewalt? Will es explizite Sexszenen oder nicht? Bevorzugt es ein offenes Ende, oder sehnt es sich halt doch nach einem Happy End? Hier eröffnet sich ein breites Feld für die Erkenntnisforschung, aber auch für die Werbung. Der von Weber und Plansche aufgezeigte Weg dürfte also weit über die Kinowelt hinaus von grossem Interesse sein.
Es funktioniert
Drei Sekunden Zeit hat man, um eine Entscheidung zu treffen. Will oder kann man das nicht, läuft der Film nach Vorgabe seiner Entwickler weiter. Die Software funktioniert perfekt, ganz ohne Verzögerung nimmt die Geschichte – oder nehmen die Geschichten – ihren Lauf. Weber und Pansche war es klar, dass das nicht genügt und es auch eine gute Case-History für ihre technologische Innovation braucht. Das ist ihnen gelungen. «Late Shift» ist nicht nur technisch eine Sensation, sondern überzeugt auch künstlerisch. Kameraführung wie auch die Schauspieler – insbesondere Joe Sowerbutts als Matt – sind beeindruckend. So gesehen sind die knapp 1.5 Millionen Schweizer Franken, die der Film gekostet hat, ein «Schnäppchen», zumal das Format natürlich wesentlich aufwändiger ist als ein linearer, herkömmlicher Kinofilm.
Vom Handy ins Kino
Ursprünglich war der Film nur als Handy-Applikation gedacht. Die Schweizer Filmförderung lässt das aber nicht zu und schreibt zwingend vor, dass geförderte Projekte den Weg ins Kino finden müssen. Was in gewisser Hinsicht rückwärtsgewandt und nicht zeitgemäss erscheinen mag, erwies sich für die Realisatoren von «Late Shift» als Glücksfall und hat zu einem faszinierenden Ergebnis beigetragen. Denn «Late Shift», vom Schweizer Fernsehen, nicht aber vom BAK mitfinanziert, ist mehr als ein innovatives Projekt, es ist ein historischer Moment und könnte die Antwort auf rückläufige Kinoeintritte sein. Denn jetzt macht es wieder explizit Sinn, sich mit anderen zu einer grossen Audience zusammenzufinden. Wer weiss, vielleicht gelingt es dem Film, genau jene Spezies hinter den Computern hervorzulocken, für die er ursprünglich gedacht war – die Gamer. Frische Luft also für unser geliebtes Kino!
«Late Shift» – Die Geschichte
Matt, ein Londoner Mathematikstudent mit ausgeprägtem Optimierungszwang, wird widerwillig zum Mittäter beim Raub eines wertvollen chinesischen Artefakts. Um sich aus seiner misslichen Lage zu befreien, muss er die Hintergründe der Tat aufdecken und schwerwiegende Entscheidungen treffen, die seinem Naturell diametral zuwiderlaufen. Der Film wird in der multioptionalen Struktur des interaktiven Filmformats CtrlMovie erzählt. Das Publikum kann für Matt wegweisende Handlungsentscheidungen treffen. Muss auch er skrupellos und gewalttätig werden, oder leiten ihn die Zuschauer zu einem guten Ende? So gesehen kann also nicht von DER Geschichte gesprochen werden, sondern es gibt unzählige Varianten, die der Zuschauer mitgestalten kann.
«Late Shift» – Die Macher
Realisiert wurde der Film von den beiden Schweizern Tobias Weber (Regie) und Baptiste Plansche. Weber ist einer der Gründer und der Creative Director von CtrlMovie. Nach dem Studium an der London Film School gründete er die Werbeagentur und Filmproduktionsfirma &Söhne, wo er seit 2004 als Regisseur für Werbefilme arbeitet. Late Shift ist sein erster Spielfilm als Regisseur und Ko-Autor. Planche ist Produzent bei der Zürcher Filmproduktion &Söhne und einer der Gründer der Start-Up für interaktive Filme CtrlMovie, welche er als CEO leitet. Vor dem Einstieg in die Filmproduktion hat er Soziologie, Geschichte und Politikwissenschaft studiert und für die Vereinten Nationen in Genf sowie für verschiedene Schweizer Regierungsorganisationen im In- und Ausland gearbeitet.