Kino | Lourdes
Jessica Hausners formal brillante Pilgerfahrt illustriert den Mikrokosmos von Lourdes zwischen Kitschsouvenirs und dem grossen Hoffen auf ein Wunder.
Synopsis: Christine (Sylvie Testud) hat Multiple Sklerose und ist an den Rollstuhl gefesselt. Sie nimmt an einer Gruppenreise in den südwestfranzösischen Pilgerort Lourdes teil, wo es angeblich immer wieder zu Wunderheilungen gekommen ist, seit 1858 dort in einer Grotte die Mutter Gottes erschienen sein soll. Wie für viele andere Teilnehmer ist für Christine die Pilgerfahrt in erster Linie eine willkommene Abwechslung zur Einsamkeit des Alltags. Aber obwohl sie weder besonders gläubig ist, noch an ein Wunder glaubt, kann die junge Frau plötzlich ihre Hände bewegen und sogar wieder gehen. In der Pilgergruppe sorgt das Wunder für einige Aufregung. Stars: Sylvie Testud spielt die gebrechliche und hadernde junge Christine gekonnt zurückhaltend, während Elina Löhwensohn die überkorrekte Ordensschwester Cécile mit fast schon marienhafter Frömmigkeit gibt. Regie: Jessica Hausner studierte an der Filmakademie Wien. Im Jahr 2000 gab sie ihr Regiedebut mit dem Mädchenportrait «Lovely Rita», 2004 folgte der Psychothriller «Hotel». «Lourdes» wurde im Wettbewerb der 66. Filmfestspiele von Venedig gezeigt und mit dem FIPRESCI-Preis ausgezeichnet.
art-tv-Wertung:
«Lourdes» illustriert mit formaler Strenge die Widersprüche und Abgründe der katholischen Pilgerstätte und seiner Klientel. Jessica Hausner lässt in wunderschön durchkomponierten Einstellungen die aussichtslosen Hoffnungen auf Heilung der Pilger mit den weltlichen Sorgen der Betreuer zusammenprallen. Der Film wahrt dabei Distanz und Respekt, sodass trotz aller Hintergründigkeit und Ambivalenz das Phänomen Lourdes und seine Rituale weder ins Lächerliche gezogen noch überhöht dargestellt werden. Schon die erste Einstellung wirkt erhaben und komisch zugleich, wenn zu den Klängen des Ave Maria im grossen Esssaal Suppe aufgetischt wird. Die Geschichte, deren Ausgang viel Platz für Interpretationen lässt, regt dank ihrem distanzierten Standpunkt und gerade auch durch ihre ästhetischen Aussagen zum Nachdenken an. Diese Distanziertheit verleiht dem Film teilweise einen fast schon dokumentarischen Charakter, hat allerdings auch zur Folge, dass die Figuren wenig Tiefe ausweisen. Ihre Hoffnungen, Ängste und Nöte bleiben oft unausgedrückt. Das Drehbuch wird denn auch den formalen und ästhetischen Stärken des Films nicht ganz gerecht, zu Vieles bleibt angedeutet und insgesamt vertrüge es etwas mehr Dynamik. Fazit: «Lourdes» ist ästhetisch formvollendet und streng durchkomponiert wie eine katholische Messe und überzeugt durch einen distanzierten Blick auf ein ungewöhnliches Thema.
Philipp Eberhard