Kino | Women Without Men
Shirin Neshats Spielfilmdebüt oszilliert zwischen harter Realität und paradiesischen Träumen vierer Frauen im Teheran der frühen Fünfziger Jahre – mit überraschenden Parallelen zur aktuellen Lage in Iran.
Synopsis: Teheran im Sommer 1953: Der erste demokratisch gewählte Premierminister Mossadegh wird mit britischer und amerikanischer Hilfe in einem Staatsstreich gestürzt – der Schah erlangt die Macht zurück. Mitten in diesen Schicksalstagen der iranischen Geschichte treffen in einem verwunschenen Garten am Rande der Stadt vier Frauen aufeinander, wie sie verschiedener kaum sein könnten: die Politaktivistin Munis oder vielmehr ihr Geist (Shabnam Tolouei), Munis’ Freundin Faezeh (Pegah Ferydoni), die junge Prostituierte Zarin (Orsi Toth) sowie Fakhri (Arita Shahrzad), die aus einer trostlosen Ehe ausgebrochen ist. Durch die chaotischen Zustände nach dem Militärputsch treffen sie zufällig in einem paradiesischen Landhaus zusammen, wo sie für kurze Zeit den repressiven Verhältnissen entfliehen und den Traum von Freiheit und Glück leben können. Stars: Die in Europa wenig bekannten Hauptdarstellerinnen beeindrucken von der ersten Szene an. Jede versteht es auf ihre Weise, die verschiedenen Facetten so unterschiedlicher Frauen unter den Bedingungen einer patriarchalischen Gesellschaft eindringlich herauszuarbeiten. Regie & Crew: Shirin Neshat, eine im Iran geborene internationale Videokünstlerin, setzt sich in ihren Arbeiten vor allem mit der Rolle und Identität der Frauen in den muslimischen Gesellschaften auseinander. Mit ihrem Spielfilmdebüt «Women Without Men» gewann sie im Jahr 2009 in Venedig den Silbernen Löwen für die beste Regie.
art-tv Interview mit Shirin Neshat
art-tv-Wertung: Ab und zu hat man ja diese Filmerlebnisse, über die man später nicht mehr reden möchte oder kann, allein schon weil jedes Wort der Erklärung eins zu viel wäre. «Woman Without Men» ist so ein Film, dem das Meisterstück gelingt, einen politisch und historisch spannungsreich aufgeladenen Kontext mit einer persönlich unglaublich nahe gehenden, emotionalen Innerlichkeit zu verbinden und dabei gleichzeitig den Wunsch nach großen Bildern, tollen Einstellungen und umwerfender filmischer Kunst zu befriedigen. So nähert sich das Drama dem Zuschauer gleich aus mehreren Richtungen und auf verschiedenen Ebenen, nur um sich plötzlich wieder abzuwenden und zwischen den inhaltlichen und stilistischen Polen zu oszillieren. Dazwischen die traumatischen Erfahrungen der Repressionen gegen Frauen in einer von Männern geprägten und bestimmten Gesellschaft und Religion unter einem von patriarchalischen und vormodernen Strukturen geprägten Regime. Und auf der anderen Seite der Wunsch, ja die unfassliche Begierde eines alten zivilisierten Kulturvolkes nach Freiheit, Selbstverwirklichung und individuellem Lebensglück – greifbar im Streben der vier Frauen, auszubrechen und zu leben. Fazit: Politisch aufgeladen, historisch spannend, kritisch, schockierend, zudem künstlerisch anspruchsvoll, großartig gefilmt und das alles ohne je kitschig zu werden – ein wundervoller Film.
Maximilian Haase