Kino | Maman est chez le coiffeur
Mit «Maman est chez le coiffeur» dringt Léa Pool in die Tiefen des Kinderuniversums, während drum herum die Fassade der Elternwelt zusammenstürzt.
Synopsis: Sommer im ländlichen Québec, 1966. Elise (Marianne Fortier), ihre Brüder Coco (Élie Dupuis) und Benoit (Hugo St-Onge-Paquin) freuen sich auf die grossen Ferien, als ein Streit der Eltern alles verändert. Verzweifelt verlässt die Mutter (Céline Bonnier) ihr Zuhause und geht als Journalistin nach London, mit dem Versprechen, ihre Kinder zu sich zu holen. Der Vater (Laurent Lucas) ist heillos überfordert. Doch vom Verschwinden der Mutter soll niemand etwas erfahren – Mama ist beim Coiffeur. Stars: Marianne Fortier brilliert in der Hauptrolle der grossen Schwester neben dem bekannten Schauspielerstar Laurent Lucas. Am eindrucksvollsten spielt jedoch der kleine Hugo St-Onge-Paquin den kleinen Benoit. Regie: Léa Pool wuchs in Lausanne auf. 1975 kam sie nach Kanada um dort das Filmhandwerk zu erlernen. Als Regisseurin und Drehbuchautorin gewann sie neben zahlreichen internationalen Auszeichnungen mit dem Film «Emporte-moi – Nimm mich mit» (1999) den Schweizer Filmpreis.
art-tv-Wertung: Bestimmender Rahmen der Geschichte sind die gesellschaftlichen Schwierigkeiten der 1960er Jahre, die hier eindrücklich skizziert werden: Beruflich schon selbstständig, ist die Frau im privaten Bereich noch in der traditionellen Rolle der Ehefrau und Mutter verhaftet. Diesen sozialen Widerspruch spiegelt der Film auf dramatische Weise, wenn die Bilderbuchszenen einer fürsorglichen Mutter und Ehefrau mit ihrer Flucht vor der Familie schlagartig ein Ende nehmen. Von diesem Punkt an konzentriert sich alles auf die Welt der Kinder und ihrem Spannungsverhältnis zum Chaos der Erwachsenen. Einfühlsam wird gezeigt, wie die Kleinen damit umgehen, dass ihre Mutter nicht mehr für sie da ist. Dabei wird ein tiefer Einblick in die Psyche der Kinder gewährt, für die der Verlust ihrer Mutter kaum zu verstehen oder gar zu akzeptieren ist. Wut und Trauer mischen sich mit Schuldgefühlen. Der Film kommt jedoch lustig und leichtfüssig daher, weil Pool gleichzeitig zeigt, wie sich die Kinder trotz ihrer Verletzlichkeit mit Lebensfreude und -kraft zu helfen wissen. Der Zusammenhalt der Geschwister, ihre Freunde und die Nachbarskinder formieren eine „Community“, die – so legt der Film nahe – vor der Erwachsenenwelt Schutz bietet. Fazit: Mit einem grandiosen Film zeigt Léa Pool, dass die Kindheit die schwerste aber auch die schönste Zeit des Lebens sein kann.
Robert von Wertenstein