Kino | Tannöd
Das düstere Drama über den Mord an einer ganzen Familie zeigt auf beklemmende Weise die Atmosphäre in einem von gegenseitigem Misstrauen geprägten Dorf der Nachkriegszeit.
Synopsis: Die Familie Danner, samt Kinder und Magd wurden brutal auf ihrem Hof mit einer Hacke ermordet. Ihre Leichen fand man erst Tage später im Stroh versteckt. Im Dorf wollen die Bewohner nichts von der Tat bemerkt haben. Besonders gut zu sprechen war man auf die Familie nicht – der alte Danner (Vitus Zeplichal) galt als jähzorniger Patriarch, der jeden unterdrückte und seine Tochter Barbara sogar geschwängert haben soll. Als zwei Jahre später die junge Krankenschwester Kathrin (Julia Jentsch) ins Dorf kommt, um ihre Mutter zu beerdigen, ist der Mörder noch immer nicht gefunden. Die alte Traudl (Monica Bleibtreu) erzählt ihr von der Tat. Hatte die fromme Dorfgemeinschaft ihre Verantwortung für den Mord bisher verdrängt, so wird durch die Besucherin plötzlich wieder davon gesprochen – Anfeindungen und Misstrauen inklusive. Gerüchte machen die Runde, und Kathrin wird langsam klar, dass sie stärker involviert ist, als ihr lieb ist. Stars: Mit Julia Jentsch («Sophie Scholl» 2005) übernimmt eine der talentiertesten deutschen Schauspielerinnen die Hauptrolle. Neben ihr glänzt die großartige Monica Bleibtreu, die im Mai 2009 verstarb. Allein diese Kombination spricht für sich. Regie & Crew: Die Schweizer Regisseurin Bettina Oberli widmet sich nach «Die Herbstzeitlosen» (2009) erneut der für das Individuum bedrückenden Enge traditioneller Dorfgemeinschaften.
art-tv-Wertung: «Tannöd» ist alles andere als ein gewöhnlicher Krimi. Die Mordgeschichte ist eher Beiwerk, um die bigotte Verlogenheit einer Dorfgemeinschaft darzustellen, die sich über die Existenz eines Mörders in ihrer Mitte ausschweigt. Denn würde auffliegen, dass die grausamen Ereignisse auf dem Hof Tannöd im ganzen Dorf bekannt waren, wäre das der Sündenfall. Oberli gelingt es wunderbar, die fast vormodernen Strukturen und katholische Heuchelei in der Provinz zu illustrieren. Dort, wo Aufbegehren gegen die Zustände sofort mit kollektiver Missachtung bestraft wird, hat das Individuum keinen Platz. Nur derjenige, der sich der Gemeinschaft unterwirft, wird von ihr geschützt. Gleichzeitig zeigt «Tannöd», dass die perfide Vorstellung, sich durch Beichte reinigen zu können, nicht zur Erlösung führt. Das alles findet in einer bedrückenden Kulisse statt: der dunkle Wald und der einsame Hof erinnern an ein schauderndes Märchen, das fahle Licht und der Nebel fügen sich in die eigenartige Stimmung der glaubwürdig gespielten und hinterwäldlerischen Dorfbewohner. All dies wird detailliert inszeniert. Doch vielleicht hätte der Film gut daran getan, ein wenig mehr auf Anspielungen und Uneindeutigkeit zu vertrauen. Fazit: Nicht nur ein herrlich gespenstisches Märchen über einen grausigen Mord, sondern auch eine Studie über die zwischenmenschlichen Abscheulichkeiten der bayerischen Provinz.
Maximilian Haase